Luca und Lavinia - Wiedersehen in Grasse

Luca und Lavinia - Wiedersehen in Grasse
Grasse, Mai 2023. Im Hintergrund sind das Mittelmeer und die Stadt Cannes zu erkennen

Lavinia schnaufte schwer, strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn und verfluchte einmal mehr, dass sie in Deutschland so selten ins Fitnessstudio gegangen war. "Wie viele Treppen … denn noch", murmelte sie vor sich hin und warf einen prüfenden Blick auf die Stufen, deren Ende noch immer nicht in Sicht war. Auch wenn sie sich darüber freute, zum ersten Mal seit zwei Jahren endlich wieder an die Côte d'Azur gekommen zu sein, war der Aufstieg in die Altstadt von Grasse doch umständlicher als gedacht. Hätte sie doch bloß den Bus genommen!
 Sie hatte ihr Lager wieder in Nizza aufgeschlagen und war durch die altvertrauten Gässchen von Vieux Nice gewandert. Zwischen Pan Bagnat, dessen reichhaltigen Inhalt sie versuchte, nicht auf dem Steinboden zu verteilen, den vierzig Eissorten zweier berühmter Eisketten und Pissaladière, einer Art Pizza mit karamellisierten Zwiebeln und Oliven, hatte sie es sich an den letzten Tagen gut gehen lassen. Immer wieder hatte sie einen neugierigen Blick in die Parfumgeschäfte in der Altstadt geworfen, die oft nicht mehr als ein paar Quadratmeter Fläche hatten.
 Ihr Blick blieb mehrmals an den Köpfen von Männern mit schwarzem, welligem Haar hängen, insbesondere, wenn diese eine Sonnenbrille im Haar hatten oder ein weißes Hemd und teuer aussehende Jeans trugen. Es hätte ja sein können, dass … Man wusste ja nie, wer das sein könnte. Vielleicht ja … Vielleicht, oder auch nicht. Nach Rom hatte sie es in den letzten Jahren nicht geschafft. Zu voll waren ihre Arbeitswochen als Rezeptionistin, und da sie sich noch in der Ausbildung befand, konnte sie auch zu Wochenend- und Spätschichten schlecht nein sagen.
 Zu ihrer Enttäuschung hatte sie nirgends in Nizza seinen hübschen Kopf entdeckt. 'Na ja', hatte sie zu sich gesagt, 'ich werde hier trotzdem eine schöne Zeit verbringen'. Sie wusste selbst nicht mehr ganz genau, wie sie auf die Idee gekommen war, nach Grasse zu fahren. Vermutlich irgendeine Anzeige im Internet oder ein Eintrag auf Google Maps. Grasse lag nicht direkt am Meer, aber so weit oben, dass man angeblich von der Altstadt aus das Mittelmeer sehen konnte. Für irgendwas mussten diese Treppenstufen aus der Hölle ja gut sein.
 Hinter sich hörte sie ein paar weitere Leute schnaufen. Nur eine Person lief mit ruhigen und regelmäßigen Schritten die Steintreppen hoch. Bewundernswert. Das war wohl der einzige Mensch, der regelmäßig Sport machte. Eine junge Frau, die ein paar Meter vor ihr ging, blieb plötzlich stehen, fächelte sich kurz Luft zu und sprach sie dann auf Englisch an. "Entschuldigung, könntest du ein Foto von mir vor der bunten Wand hier machen?"
 Lavinia lachte laut auf, froh über die kleine Pause von den hunderten Treppenstufen. "Na klar!" Die Frau – sie hatte kurze, dunkelbraune Haare und trug ein weißes Babydoll-Top – lächelte erfreut und drückte ihr ihr Handy in die Hand. Die Instruktionen darauf waren in einer Sprache, die Lavinia nicht verstand, aber den weißen Auslöser-Knopf fand sie dennoch. "Trois, deux, un", sagte sie auf Französisch.
 Mit halbem Ohr hörte sie, wie die regelmäßigen Schritte unter ihr stoppten. Sie schoss zwei, drei Fotos und trat dann zur Seite, um der anderen Person aus dem Weg zu gehen. Lavinia hob den Blick und –
Das konnte nicht sein.
Das war nicht möglich.
Das war …
"Luca", hauchte sie. Beinahe hätte sie das Handy der anderen Frau fallen gelassen. Erstaunen brandete durch ihren Kopf wie ein Wirbelsturm über dem Meer.
"Äh … könnte ich …?", fragte die junge Frau und streckte die Hand aus.
"Oh, sorry, natürlich." Hastig gab sie der Frau ihr Handy zurück. Diese bedankte sich und stieg dann weiter die Treppen hinauf.
Lavinia wandte sich wieder dem Mann zu. Sicherlich irrte sie sich. Sicherlich war das jemand, der bloß aussah wie –
"Hallo, Lavinia. Was machst du denn hier?"
 Er war es. Die tiefdunklen Augen, die stolze Nase mit kleinem Höcker, der harmonische Mund. Mittlerweile trug er einen Bar. Die Sonnenbrille saß wie immer in den schwarzen, welligen Haaren. Seine Stimme. Sein Aftershave. Alle Erinnerungen aus der Woche, die sie vor zwei Jahren in einem heißen Sommer in Nizza miteinander verbracht hatten, schwappten mit einem Mal in ihren Kopf und fuhren fröhlich Karussell.
"Ich … äh … kann es nicht glauben, dass du … bist das wirklich du?"
"Nein, ich bin Lucas verloren gegangener Zwilling", antwortete er, ohne eine Miene zu verziehen. "Hat er dir nicht davon erzählt?"
 Lavinia verdrehte die Augen, lächelte dann aber. "Du bist es. Eindeutig."
"Ich bin es. Aber du hast mir meine Frage immer noch nicht beantwortet."
"Ich mache hier Urlaub. Und du?"
"Ausbildung. Zum Parfümeur."
 Lavinia schlug sich eine Hand vor den Mund. "Also hat es wirklich geklappt?"
"Natürlich. Was dachtest du denn?" Unter dem kühlen Tonfall hörte sie heraus, dass vermutlich nicht alles so glatt gelaufen war, wie er gern vorgeben wollte. Mit Rom war es wohl nichts geworden.
 Sie schnaubte leise und stemmte eine Hand in die Hüfte. "Ich habe nie daran gezweifelt, dass es klappen wird. Aber es freut mich, das zu hören. Andere Frage: Weißt du, wie viele Stufen es noch sind, bis wir endlich diese Treppe aus der Hölle überwunden haben?"
 Er lächelte schief und setzte die Sonnenbrille auf. "Komm mit, ich führe dich in die Altstadt."
"Das hat meine Frage nicht beantwortet."
"Ist vermutlich auch besser so. Wir wollen ja nicht, dass du auf halbem Weg kehrt machst."
"Halber Weg? Oh nein!" Sie verzog die Miene, nahm aber tapfer weiterhin eine Stufe nach der anderen.
 Sie war dankbar für das Schweigen, das daraufhin wieder zwischen ihnen herrschte. Es erlaubte ihr, die wild umherfliegenden Gedanken zu sortieren. Was damals zwischen ihr und Luca passiert war, hatte noch lange in ihr nachgeklungen. Sie hatten sich zufällig in einer dunklen Gasse nahe des Cours Saleya in Nizza kennen gelernt – und das nicht gerade auf die angenehmste Weise. Genau genommen hatte Lavinia Luca, den sie irrtümlich für einen Angreifer hielt, ihre Handtasche so heftig ins Gesicht geschlagen, dass seine Nase davon geblutet hatte.
 Was daraufhin folgte, waren vorsichtige Annäherungsversuche. Immer wieder hatten sie sich getroffen und besser kennen gelernt. Bis ... ja, bis Luca nach Italien zurückgeflogen war. Ohne ihr seine Handynummer zu hinterlassen. Dafür jedoch einen Zettel, auf dem stand, dass er bald seine Parfümeurausbildung anfangen würde. In Rom, nicht in Grasse. Was hatte ihn hierher verschlagen? Gut, Grasse war als Stadt des Parfüms weltbekannt. Aber dass er so kurz nach ihrem dramatischen Abschied am Flughafen von Nizza wieder an die Côte d'Azur zurückkehren würde, hätte sie nicht gedacht. Hatte er manchmal an sie gedacht? Wohnte er hier in Grasse oder doch im eine Zugstunde entfernten Nizza? Wenn sie daran dachte, dass sie heute Morgen fast nicht nach Grasse gefahren wäre…

Luca war froh, dass er seine Sonnenbrille auf der Nase hatte. Es war ihm unangenehm, seine Augen vor Lavinia zeigen zu müssen. In seinem Kopf ratterte eine Frage nach der nächsten durch. Dieses Gedankenrasen war normal – das Herzrasen jedoch nicht. Es beunruhigte ihn. Kam es von den vielen Treppenstufen? Wohl nicht, denn die war er gewohnt. Da Grasse außer seiner Ausbildungsstätte, den duftenden Jasmin-, Rosen- und Orangenblüten und hübschen Gässchen nicht so viel zu bieten hatte, war er froh, in Nizza eine kleine Einzimmerwohnung gefunden zu haben.
 Jedes Mal, wenn er in Nizza über den Cours Saleya lief, musste er an die Begegnung mit Lavinia zwei Jahre früher denken. Manchmal war es nur ein kurzer Gedankenblitz, manchmal spielte er bereits durchlebte Szenen so intensiv in seinem Kopf durch, dass er fast in eine fremde Person gelaufen wäre. Was insbesondere in diesem überfüllten Vieux Nice, das direkt hinter dem Cours Saleya lag, nicht sehr schwer war. Enge Gassen, zahlreiche Restaurants und Seifenläden und Touristen über Touristen. Anstrengend.
 War es wirklich richtig gewesen, sie damals so am Flughafen stehen zu lassen? Hätte er ihr nicht doch seine Handynummer geben sollen? Die Trennung von Mariella war einfacher als gedacht gewesen. Sie hatte wohl gespürt, dass Luca nicht mehr bei der Sache war. Keine Woche später hatte sie einen neuen Freund und Luca hatte nie wieder etwas von ihr gehört und gesehen. Was angesichts einer überschaubaren Stadt wie Salerno doch eher ungewöhnlich war.
Er stieg eine Stufe hoch und wandte sich um. "Alles klar?"
"Alles … super", schnaufte Lavinia. "In Deutschland … mach ich mir erstmal … einen Fitnessstudio-Vertrag."
 Luca musste lächeln. Mit der Sonnenbrille fühlte er sich selbstbewusster. Unangreifbarer. Er streckte die Hand aus. "Soll ich dir hochhelfen?"
Sie blickte kurz auf seine Hand, die Augenbrauen vor Überraschung hochgezogen. Dann lachte sie verlegen. "Nein, danke. So schlimm ist es noch nicht."
 Er zuckte die Schultern und nahm die nächsten Stufen. Aber tief in seinem Inneren brach etwas auf. War er gekränkt, weil sie seine Hilfe nicht angenommen hatte? Aber was hatte er denn zu erwarten, nachdem sie fast zwei Jahre lang keinen Kontakt mehr gehabt hatten? Und die Person, die dafür verantwortlich war, war er. Sie hätte ihm sicherlich ihre Handynummer gegeben. Und dann hätten sie … vielleicht hätten sie …
"Wo geht's weiter?" Lavinias helle, kräftige Stimme riss ihn aus den Gedanken.
Er zeigte nach rechts.
"Weiter rauf, war ja klar", seufzte sie.
"Willst du die Altstadt nun sehen oder nicht?" Das war schärfer herausgekommen als beabsichtigt.
"Schon gut, bitte nicht beißen."
 Luca drehte sich kurz um. "Entschuldige bitte. Es ist nur …"
Ich habe nicht damit gerechnet, dich wieder zu treffen? Es tut mir leid, dass ich dich damals stehen gelassen habe? Das Wiedersehen mit dir löst mehr in mir aus, als ich gedacht hätte? Ich bin ein bisschen ratlos, was ich tun soll?
All diese Worte lauerten hinter Lucas Lippen. Keines davon kam heraus.
"Was?", fragte sie.
 Er sah Lavinia an, sah ihre grünbraunen Augen, die braunen Locken mit dem Rotstich, die Sommersprossen auf ihrer Nase und ihren Wangen. Sie hatte das Shampoo gewechselt. Es war nicht mehr das mit Apfelgeruch und Zitrusnote. Dieses hier roch mehr nach … Vanillin vielleicht. Dunkler, schwerer, aber mit einem weichen, süßen Abgang. Wärme strömte durch seinen Bauch. Unter dem Vanillin verbarg sich noch eine andere Note, etwas Beeriges vielleicht. Ungewöhnliche Kombination.
"Nichts", sagte er. "Weißt du schon, was du in Grasse vorhattest? Ich habe … ein wenig Zeit, bevor ich die nächste Stunde habe."
"Das ist alles so aufregend! In was für einem Fach wirst du als nächstes unterrichtet?"
"Kosmetik."
"Kosmetik?"
"Ja. Das wird häufig dazu gelehrt. Immerhin soll man ja was für die ordentliche Stange Geld bekommen, die man bezahlt."
 Er wusste, dass spätestens jetzt sein Vater über ihrer Konversation schwebte. Sein Vater, der wollte, dass Luca – wie er selbst – Anwalt wurde. Luca, der einzige Sohn, der das sichere Jura-Studium abgebrochen hatte, um "einem verrückten Traumgebilde zu folgen", wie sein Vater es genannt hatte. Luca ballte die Hände zu Fäusten. Manche Menschen würden ihn niemals verstehen. Die Erkenntnis schwappte über ihn wie eine kalte, salzige Meereswelle.
 Er seufzte und rieb sich die Stirn.
Lavinia blieb stehen und legte eine Hand ans Kinn. "Stimmt, wenn ich drüber nachdenke, sind ja die meisten Kosmetikartikel auch parfümiert. Sind deine Lehrer gut?"
"Ja, ziemlich", brachte er hervor und sah gen Boden.
Lavinia trat einen Schritt näher auf ihn zu. "Alles in Ordnung bei dir?"
 Er setzte die dunkle Sonnenbrille ins Haar zurück. "Ja, ich denke schon. Es ist … manchmal nicht ganz einfach hier."
Sie sah ihn mitfühlend an. "Das glaube ich. Bei mir auch nicht. Die Arbeitszeiten als Rezeptionistin sind schon heftig."
"Du bist auch in Ausbildung?"
"Ja, aber ich bin nach Berlin gezogen. Mehr Hotels, mehr Touristen, mehr Chancen."
"Klingt logisch. Ist es weit von Stuttgart?"
"Sehr weit. Am anderen Ende von Deutschland."
 Luca nickte. Sie tauschten einen Blick und eine peinliche Pause entstand.
"Ich wollte ins Parfümeriemuseum, weißt du, wo das ist?", schoss es dann aus Lavinia heraus.
"Ja klar, ich war schon etliche Male dort. Ich zeige es dir."
 Sie bedankte sich, und der weitere Aufstieg verlief schweigend. Luca fragte sich, ob er ihr lieber nicht davon hätte erzählen sollen, dass er bald einen Kurs hatte. Ob das abweisend auf sie gewirkt hatte? Sollte er sie fragen, ob sie sich nach seinem Kosmetik-Kurs zum Essen oder auf ein Eis treffen wollten? Und wenn, dann lieber auf ein Eis, weil unverbindlicher? Immerhin wusste er ja gar nicht –
"Wie lange dauert dein Kurs eigentlich?"
Als hätte sie seine Gedanken erraten. Er lächelte, und als sie es erwiderte, machte sein Herz einen kleinen Hüpfer. "Nur zwei Stunden. Was sagst du zu einem Eis danach?"
"Gerne. Wo und wann?"
"Um 15.30 Uhr am Ausgang des Museums?"
"Alles klar. Bis dann!"

Zweieinhalb Stunden später stand Lavinia vorm Ausgang des Parfümeriemuseums. Sie konnte es noch immer nicht glauben. Hatte sie wirklich durch puren Zufall Luca wiedergetroffen? Oder sich alles nur eingebildet? Das Treppensteig-Delirium, scherzte sie und musste unweigerlich grinsen.
"Deinem Grinsen nach war das Museum gut", riss sie eine bekannte Stimme aus den Gedanken.
 Sie drehte sich um. Vor ihr stand Luca, der sehr real aussah. Sogar sein Kleidungsstil bestand nach wie vor aus Hemden und Markenjeans. "Ja, war es. Und wie war dein Kurs?"
"Der Kurs super. Die Dozentin eher anstrengend."
"Wieso das?"
 Er seufzte und verdrehte die Augen. "Sie ist der Meinung, dass natürliche Körpergerüche widerlich sind und Parfüm diese überdecken sollte. Wie Concealer sämtliche Hautunreinheiten. Ich hingegen finde, dass Parfum den natürlichen Geruch jedes Menschen unterstreichen und sich mit diesem vermischen sollte. Wir sind deshalb heute … ein bisschen aneinander geraten."
Lavinia verzog das Gesicht. "Mist. Und dann?"
"Dann habe ich wutschnaubend den Raum verlassen und hier eine Stunde gewartet."
 Für eine Sekunde sah sie ihn entrüstet an, aber dann sah sie, dass er eine Seite des Mundes nach oben gekräuselt hatte.
"Luca!" Sie knuffte ihn spielerisch in den Arm und er lachte lauthals. Wie sehr sie diesen Klang vermisst hatte, wurde ihr erst in diesem Moment bewusst. Luca, dessen sarkastische Witze und ansteckendes Lachen seine Ernsthaftigkeit immer wieder durchbrachen wie kleine Sonnenstrahlen die dunklen Wolken.
"Aber im Ernst: Was ist danach passiert?"
 Sofort wurde Lucas Blick wieder Ernst. Er schob die Hände in die Hosentaschen und musterte den Steinfußboden. "Ich habe meinen Mund gehalten und meinen Ärger runtergeschluckt."
 Lavinia schmunzelte. Luca sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Was ist daran bitte witzig?"
"Ich musste gerade an eine gewisse Szene denken aus … also vor zwei Jahren. Als ich einen Wutanfall hatte, während wir den Weg zur Villa Ephrussi hochgingen."
 Er zögerte, aber nur kurz. "Stimmt. Ich erinnere mich. Gefühle rauslassen im richtigen Moment und so."
"Exakt. Möchtest du jetzt gegen diese wunderschöne Steinwand treten?"
"Nein, danke. Ich glaube, ich gehe eher heute Abend ein paar Runden schwimmen."
"Im Mittelmeer?"
"Ich hatte eigentlich mehr an das Schwimmbad neben meinem Fitnessstudio gedacht, aber ja, das wäre auch eine Option."
 Schwimmen im Mittelmeer. Das hatten sie auch getan, nachts und … unbekleidet. Vor zwei Jahren, allerdings in Nizza. Auf Google Maps hatte sie gesehen, dass Grasse ein Stück weit vom Meer entfernt lag. Fast direkt darunter befand sich Cannes, das für sein Filmfestival und den Strand bekannt war. Trotzdem, das nächtliche Baden im Mittelmeer … es war das erste Mal gewesen, dass sie sich einander angenähert hatten. Der Moment war lange irgendwo in Lavinias Erinnerung verschlossen gewesen. Jetzt klopfte er mit zaghaften Fingern an und fragte, ob er wiedererlebt werden durfte.
"Ich habe jetzt nicht mehr so viel Angst davor, nachts im Meer zu baden", sagte Luca, als hätte er ihren Gedankengang erraten.
 Sie lächelte ihn an, weil sie nicht wusste, was sie antworten sollte. Er lächelte zurück. Wenn sie jetzt einen Schritt näher trat und er, dann könnten sie vielleicht…
Ein lautes Knurren unterbrach die Stille. Lavinia lachte verlegen. "Ich glaube, ich habe Hunger."
"Alles klar. Auf zur Eisdiele."
"Gibt es hier auch welche mit vierzig Eissorten?"
"Leider nicht. Aber ich kenne eine, die echt gut ist."
 Sie liefen die Treppenstufen hinab auf einen großen Platz, auf dem Lavinia zuvor noch einen Markt gesehen hatte. Nun waren die Buden abgeräumt und es fanden sich nur noch traurige Reste von Blumen und Essen auf dem Fußboden.
"Hast du schon den Ausblick von hier aus genossen?", fragte Luca.
"Noch nicht."
 Sie liefen ein paar Schritte über den Platz, an einem Karussell vorbei, und blieben vorm Geländer stehen. Das Treppensteigen hatte sich gelohnt. Von dem Platz aus konnte man über die Landschaft der Côte d'Azur mit ihren Palmen, Pinien und Zypressen blicken, bis zu der Bucht, an der Cannes lag. Etwas weiter entfernt sah sie Hänge, an denen vermutlich Rosen, Jasmin, Orangenblüten und Tuberose angebaut wurden, wie sie im Parfummuseum gelernt hatte. Das Mittelmeer spiegelte in seinem altvertrauten Azurblau den Himmel wider. Alles sah aus, als habe ein Maler seine fröhlichste Palette aus hellen und kräftigen Farben verwendet und dazwischen etwas Pastell getupft.
 "Wow. Ich hatte vergessen, wie schön der Blick aufs Mittelmeer ist." Lavinia strich sich eine Locke aus dem Gesicht, die an ihrer Stirn geklebt hatte. Als sie Luca ansah, blickte er schnell weg. Hatte er sie etwa beobachtet?
"Ja, es ist wirklich schön. Ehrlich gesagt bin ich das schon gewohnt, aber … vielleicht sollte ich nicht alles so als gegeben hinnehmen."
"Sehr tiefgründig. Aber jetzt brauche ich erst einmal ein Eis."
 Er nickte, und sie schlenderten durch die Gassen, an Häusern mit hellblau gestrichenen Fensterläden vorbei, die mit dem Zitronengelb und Terrakotta der Fassaden kontrastierten. Über der Altstadt waren hunderte pinker Schirme aufgehängt.
 Lavinia deutete nach oben und fragte Luca: "Weißt du, warum die hier hängen?"
"Ja. Die rosafarbenen Schirme stehen für die Rosenausstellung, die hier bald stattfinden wird."
"Ach echt? Wann denn?"
"Nächste Woche. Die Schirme kündigen sozusagen den Frühling an, gemeinsam mit der Rosenblüte."
"Die ist wahrscheinlich ziemlich wichtig für euch Parfümeure, oder?"
"Ja, zusammen mit Jasmin und Orangenblüten."
"Welche Blume magst du am liebsten? Also als Parfümeur?"
"Orangenblüte."
"Weil sie dich an Italien erinnert?"
 Luca schwieg und wich ihrem Blick aus.
"Entschuldige", murmelte Lavinia. Er warf ihr einen Blick zu. "Nein, du musst dich nicht entschuldigen. Ist ja nicht dein Fehler."
 Sie nickte, aber die Verunsicherung saß nun in ihrem Magen wie eine Zecke, die sich nicht von der Haut lösen lassen wollte.
"Hier ist es." Luca blieb stehen und zeigte auf einen Tisch mit zwei Stühlen. "Draußen oder drinnen?"
 Lavinia fing sich wieder. "Draußen natürlich. Ich bin genug drinnen für meine Ausbildung."
Er kaufte eine Kugel Pistazieneis, sie Himbeer-Vanille.
"Das passt", kommentierte er.
"Zu was?"
"Zu deinem Shampoo." Ihre Blicke kreuzten sich. Täuschte sie sich, oder wurde Luca tatsächlich ein wenig rot?
"I-Ich meine nur, ich habe es ein wenig gerochen, als wir hinaufstiegen. Die Treppen. Weißt du."
"Ich vergesse immer, wie fein deine Nase ist." Sie lachte, um die Verlegenheit zu vertreiben. Mit den Eistüten in der Hand setzten sie sich auf zwei Stühle draußen.
 Luca warf einen skeptischen Blick auf Lavinias Eiskugel. "Ist es nicht zu süß?"
"Willst du probieren?" Sie hielt ihm das Eis hin.
Er hielt inne. Manches an ihm kam ihr sofort wieder vertraut vor. Sie war die Impulsive, er der Zögerliche. Gegensätze, die sich anzogen. Oder?
Schließlich nickte er. "Willst du auch?"
"Was für eine Frage!"
 Sie probierten beide. Luca verzog das Gesicht. "Definitiv zu süß."
Lavinia warf den Kopf in den Nacken und lachte. "Deins fand ich aber gut. Pistazie."
"Ja, es ist sehr beliebt in … in Süditalien."
"Warst du in letzter Zeit mal dort zu Besuch?"
"Nur zu Weihnachten. Meine Mutter bringt mich um, wenn ich dann nicht komme."
"Und ansonsten nicht?"
"Nein." Wieder dieser verdunkelte Blick, wieder dieses Mustern des Steinbodens. "Viel zu tun, weißt du."
 Lavinia runzelte die Stirn und beugte sich vor, um eine Hand auf Lucas Oberarm zu legen. Er sah sie überrascht an, wich aber nicht zurück. "Hey, du musst mir nichts vormachen. Ich verstehe das, wenn es anstrengend mit deinem Vater ist."
"Anstrengend? Du hast doch gar keine Ahnung!", blaffte Luca und lehnte sich so weit zurück, dass Lavinias Hand wie ein nasser Sack auf den Tisch zwischen ihnen sank.
 Lavinia schluckte. Zum ersten Mal bereute sie, Luca wieder getroffen zu haben. Sie ließ die Schultern sinken. "Ich glaube, ich sollte jetzt besser gehen. Danke, dass du mir die Eisdiele gezeigt hast."
Ruckartig stand sie auf und wandte sich zum Gehen. Ein Schritt, zwei Schritte.
"Halt, bitte warte."
 Lavinia blieb stehen, die schmelzende Eistüte in der Hand. Sie drehte sich nicht um. Luca sollte nicht ihr Gesicht sehen. Was hatte sie sich denn gedacht? Dass sie sich zufällig über den Weg liefen und alles wieder so sein würde wie vor zwei Jahren? Und wie es geendet hatte … nicht gut für sie, jedenfalls. Sie war heute töricht gewesen, unbedacht. Mal wieder. Sie hätte sein Angebot ablehnen sollen. Schließlich konnte sie sehr wohl alleine eine Stadt besichtigen. Sie war nicht auf ihn angewiesen.
 "Es tut mir leid, Lavinia." Wie immer, wenn er emotional wurde, klang Lucas Stimme etwas kehlig. Etwas in ihr regte sich, aber sie kämpfte es nieder. In ihrem Kopf formulierte sie schon eine leere Abschiedsfloskel. Aber nachdem sie sich umgedreht hatte, hatten sich auch ihre Worte umgedreht, und aus ihrem Mund strömte: "Schnauz mich nie wieder so an, Luca. Es ist nicht meine Schuld, dass du Stress mit deinem Vater hast!"
 "Ich weiß. Bitte entschuldige. Das war unfair von mir. Verzeihst du mir?"
Ein wenig rosafarbene Himbeer-Vanillesauce strömte auf ihre Hand, aber sie ignorierte es. "Ja, ich verzeihe dir. Aber nur, wenn du mir mehr darüber erzählst. Ich möchte keine seltsamen Versteckspielchen, okay?"
Er senkte die Schultern und schleckte schnell an seinem Eis, bevor es schmolz. "Okay."
 Gemeinsam setzten sie sich wieder in Bewegung.
"Manchmal glaube ich, ich habe mich kein bisschen verändert seit … seit damals."
"Ist nicht unbedingt etwas Schlechtes", antwortete Lavinia sanft.
"Nicht?"
"Nein. So kann ich direkter anknüpfen, weißt du."
"Verstehe. Du hast … du hast dich aber ein bisschen verändert."
"Ja, meine Haare sind jetzt kürzer. Und die Hosen etwas länger, haha."
"Das meinte ich nicht."
"Nein? Was dann?"
"Du bist …" Luca schleckte noch ein paar Mal an seinem Eis, während er nachdachte. "Du bist ruhiger geworden. Erwachsener."
"Ach so. Findest du?"
 Er nickte und versuchte sich an einem Lächeln, das Lavinias Verunsicherung in die finstere Ecke vertrieb, in die sie gehörte. Ihr Atem ging etwas schneller.
"Es steht dir", sagte er dann. "Das erwachsener Sein."
"Danke", brachte sie hervor und starrte auf ihr Eis. Kaum noch etwas übrig. Und was nun? Wenn das Eis zu Ende gegessen war, würde Luca nach Nizza zurückfahren. Um zu schwimmen. Im Schwimmbad seines Fitnessstudios. Ohne sie. Oder?
 "Wo – wo in Nizza wohnst du denn?", fragte sie und ärgerte sich im nächsten Moment über ihre ungeschickte Frage.
"In La Madeleine. Und du?"
"St. Roch. Das … ist genau am anderen Stadtende. Schade." Sie ließ die Schultern etwas sinken und aß die letzten Reste des Eis.
"Ja, wirklich schade, dass es keine Trambahn gibt, die man nehmen könnte."
"Es gibt eine Tram, stimmt ja. Ich … sorry, ich kann es immer noch nicht glauben. Dass wir uns zufällig wieder begegnet sind."
 Damit war es ausgesprochen. Der berühmte Elefant im Raum hatte einen Namen erhalten.
"Also … sehen wir uns wieder?" Lucas Stimme klang weiterhin kehlig, als er das fragte.
 Lavinia schluckte und rieb sich den Arm. "Weiß nicht, möchtest du denn?"
Luca atmete tief durch, klappte seine Sonnenbrille zusammen und hing sie in den Ausschnitt seines weißen Hemds, das mit seiner olivfarbenen Haut kontrastierte.
"Lavinia, das ist zwei Jahre her. Ich war damals noch in einer Beziehung, zumindest theoretisch."
"Und jetzt?"
"Jetzt nicht mehr. Ich … ich treffe hier auch niemanden, also …"
"Ich auch nicht. Hab es versucht, aber Berlin ist so … anstrengend. Die Aufmerksamkeitsspanne der Männer dort ist oft geringer als meine. Kannst du dir das vorstellen?"
 Luca lachte und durchbrach so die Anspannung. "Das klingt tatsächlich nicht so gut. Na, siehst du, du musstest einfach mal weg von Berlin."
"Obwohl es im Sommer auch ganz nett sein kann. Nur die Winter dort sind …" Sie schauderte.
"Wie gut, dass du jetzt an der frühlingshaften Côte d'Azur bist."
"Mit einem überhaupt nicht arrogant wirkenden Italiener an meiner Seite."
"He!" Er kniff sie in die Taille und sie wehrte ihn spielerisch ab. Etwas in ihrem Inneren flatterte, als Lucas Hand sie kurz berührt hatte.
"Also fahren wir beide im Zug nach Nizza zurück?"
"Ich schätze mal, dass ich den leider mit dieser super extrovertierten Deutschen nehmen muss, ja."
"Pah", machte Lavinia, lächelte ihn aber gleichzeitig an. Luca erwiderte das Lächeln und fragte: "Also nach dem Schwimmen hätte ich etwas Zeit. Mein erster Kurs morgen startet erst am Nachmittag. Was machst du heute Abend?"
"Heute Abend kann ich leider nicht."
Lucas Lächeln bröckelte ein wenig. "Oh. Schade."
"Ja, schade. Ich treffe nämlich einen überhaupt nicht arroganten, sondern sehr netten Italiener. Er ist der verschollene Zwillingsbruder von Luca und soeben wieder aufgetaucht."
 Sie prusteten gleichzeitig los.
Schließlich hörte Luca auf zu lachen und sagte mit anerkennendem Nicken: "Du lernst schnell, wie ich sehe."
 Lavinia grinste ihn frech an und antwortete: "Was hast du denn von der sehr extrovertierten Deutschen erwartet?"

(Szene Ende)