Newsletter-Sonderedition Teil 1/2: Was Neurodivergenz mit mir zu tun haben könnte

Newsletter-Sonderedition Teil 1/2: Was Neurodivergenz mit mir zu tun haben könnte
Mein Testergebnis zu "bipolarer Störung". Es gab vier Abstufungen und "high" war die höchstmögliche.
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Content Note! In diesem Post wird zweimal kurz auf Suizidgedanken angespielt, ohne diese weiter auszuführen. Diese Stellen sind ausklappbar, falls ihr sie lesen könnt und wollt. Einfach auf den Pfeil rechts klicken.

In der Fuchsfeder Nr. 2 hatte ich noch freudig mein nächstes Buch angekündigt und geschrieben, ich würde mich zum Einjährigen des Erscheinungstermins wieder melden. Das war am 23. Mai. Seitdem hat sich so einiges verändert. Leider nicht so viel Gutes, aber auch ein paar positive Punkte waren dabei. Das Schreiben spielt dieses Mal keine Rolle, doch ich wollte euch vorbereitend erzählen, was mich gerade stark beschäftigt, um hoffentlich beim nächsten Mal die Gedanken in Bezug auf mein potenzielles nächstes Buch DvH weiterzuführen.

Warum habe ich mich so lange nicht gemeldet? Zum einen hatte ich leider bis Mitte Juni massiven Stress mit dem Noch-Arbeitgeber. Auf dem Papier bin ich dort noch bis Ende September angestellt, tatsächlich aber wurde mir gekündigt und ich freigestellt. Bis dahin war es ein weiter Weg, der mich unglaublich viele Nerven und Kraft gekostet hat. Obwohl ich mir eine ordentliche Kündigung gewünscht habe, fühlt sich mein Leben nun trotzdem wieder richtungslos und unsicher an, da ich keine Ahnung habe, wie es ab Oktober weitergehen soll.

Bevor ich weitererzähle, möchte ich gern kurz innehalten und mich bei all den Personen bedanken, die mir durch diese schwere Zeit geholfen haben. Eure Hilfe war für mich nicht selbstverständlich. Ich musste mich oft überwinden, danach zu fragen, habe es aber nie bereut. Jede noch so kleine freundliche Geste oder jedes ermutigende Wort haben mir immens viel Kraft gegeben – allein hätte ich das nicht geschafft. Also: DANKE!

Nach der ordentlichen Kündigung sackte meine Stimmung schnell ab und wenig später spürte ich die ersten Symptome einer Depression. Nach einem unschönen Ereignis Anfang Juli brach bei mir die Stimmung vollkommen ein und gefühlt stürzte ich acht Stockwerke tief bis in den Keller eines Hauses.

Binnen weniger Stunden fand ich mich in einem Strudel aus Selbstabwertung, negativem Weltbild und - leider - auch Suizidgedanken wieder.

Diese Heftigkeit hat mich überrascht, weniger jedoch die Tatsache, dass ich so plötzlich abgestürzt bin. Bereits im Jahr 2021 und 2022 stand ich jeweils kurz vor einem Burnout, ich versuchte damals, drei Jobs, eine romantische Beziehung und den üblichen Wust in meinem Leben unter einen Hut zu bekommen. Erst in der letzten Sekunde konnte ich damals die Notbremse ziehen.

Was eint diese zwei Fast-Burnouts mit meinem aktuellen Absturz? Die Plötzlichkeit und Heftigkeit. Das „lange Funktionieren-Können“ in einer höchst kräftezehrenden Lebenssituation, die ich vor mir selbst und anderen wochen- und monatelang als „ich schaffe das schon“ und „natürlich mache ich alles auf einmal allein“ heruntergespielt habe. Zwar halfen mir diverse Personen, trotzdem fühlte es sich manchmal an, als müsse ich meinen Haushalt, meine Termine etc. ganz allein alle meistern.

Ich habe mich seit 2018 immer mal wieder mit dem Thema ADHS beschäftigt. Damals machte ich ein Praktikum in einem Sachbuchverlag und wir durften uns Bücher mitnehmen. Eines davon hieß: „Neben der Spur, aber auf dem Weg“ und war von Mina Teichert. Sie wurde im Erwachsenenalter mit ADHS diagnostiziert (in dem Buch steht „ADS“, das sagt man aber nicht mehr, später mehr dazu) und beschrieb darin eindrucksvoll ihren schwierigen Weg zur Diagnose und wie sie mit dieser lebt.

Danach verlor ich etwas den Bezug zum Thema, denn 2019 war beruflich und auch privat ein sehr schwieriges Jahr. Dann kamen die Pandemie und meine romantische Beziehung, die mit dem Abebben von Corona Anfang 2023 auseinanderbrach. Zunächst fiel es mir gar nicht auf, aber durch ein Gespräch mit einer Freundin, die meinen damaligen Freund etwas kannte, kam ich darauf, dass er vielleicht von ASS betroffen sein könnte („Autistische Spektrumsstörung“).

Das hat mich zunächst sehr gewundert, allerdings hatte ich auch ein ziemlich klischeehaftes Bild von „dem Autisten“ im Kopf: weiß, cis-männlich, hetero und aus einer akademischen Familie. Oder nonverbal, kindlich und mit einer Inselbegabung ausgestattet. Sheldon Cooper oder Rain-Man eben. Je länger ich mich damit aber beschäftigte, desto mehr Übereinstimmungspunkte sah ich. Nach wochenlangem Hin- und Herüberlegen entschied ich, ihm meinen Verdacht zu sagen. Leider tat er sich mit dem Annehmen sehr schwer, obwohl ich ihm erklärt habe, dass ich vermute, selbst neurodivergent zu sein (damals noch „nur“ ADHS, unaufmerksamer Typ).

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Kleines Neurodivergenz-Einmaleins:

- ADHS: Aufmerksamkeits-Defizits-Hyperaktivitätsstörung. Kritik: Noch immer werden männlich sozialisierte Personen häufiger diagnostiziert, da sie öfter den „hyperaktiven“/manchmal auch „impulsiven“ Typ aufweisen. Es gibt allerdings auch den „unaufmerksamen“ Typ. Auch hier spricht man inzwischen von Hyperaktivität, nur richtet sich diese nach innen. Es wird vermutet, dass weibliche Sozialisierung stark dazu beiträgt, dass bei weiblich sozialisierten Personen dieser Typ dominiert. Kritik 2: ADHS hat nichts mit einem "Defizit" zu tun, sondern beschreibt ein "dysregulated attention system", wie Ellie Middleton auf S. 96 ihres Buchs "Unmasked" schreibt.

- ASS: Autismus-Spektrumsstörung. Wie ADHS ist auch Autismus ein Spektrum. Es gibt nonverbale Autist*innen, verbale Autist*innen mit niedrigen Bedürfnissen (früher „hochfunktional“ genannt), verbale Autistinnen mit hohen Bedürfnissen etc. Kritik: Autismus wurde im deutschsprachigen Raum lange ausschließlich an weißen cis-Jungs erforscht, die aus besseren Familien stammten und allesamt dem Typus „verbaler Autist mit hohen Bedürfnissen“ entsprachen. „Asperger-Autist*in“ sagt man nicht mehr, da der Forscher mit diesem Namen mit den Nazis kooperierte. Besser wäre: Autist*in mit niedrigen Bedürfnissen.

- Bipolare Störung: Bekannt ist der manisch-depressive Typ mit heftigen Ausschlägen nach oben und unten („von himmelhoch jauchzend zu zu Tode betrübt“, Typ I). Es gibt allerdings auch einen Subtypen: hypomanisch-depressiv (Typ II). Auch Bipolarität gehört zu Neurodivergenzen. Es gibt eine hohe Komorbidität (gleichzeitige Erkrankung) zu ADHS, Angststörungen etc.

Die Suizidgefahr ist bei einer bipolaren Störung besonders hoch, insbesondere bei "gemischten Episoden", wo gleichzeitig (Hypo-)Manie und Depression auftreten.

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(weiter "Kleines Neurodivergenz-Einmaleins):

Depression und Angststörung: Die Wahrscheinlichkeit, diese komorbiden psychischen Erkrankungen zu entwickeln, ist bei einer Neurodivergenz hoch bis sehr hoch. Insbesondere bei der ASS und speziell bei den verbalen Autist*innen ist eine Komorbidität sehr wahrscheinlich. Das bedeutet aber NICHT im Umkehrschluss, dass jede Person mit Depression/Angststörung gleich neurodivergent ist.

Die Beziehung ging wenig später zu Ende. Was jedoch blieb, war meine Beschäftigung mit dem Thema Neurodivergenz, nun auch ASS und seit Neuem bipolare Störung zusätzlich zu ADHS. Zunächst informierte ich mich über Instagram und las einige Online-Artikel, dann sprach ich auch mit Personen, die eine Diagnose hatten (ASS oder ADHS) bzw. bei sich selbst Neurodivergenz vermuteten. Diese Gespräche halfen mir enorm, um meine Unsicherheiten in Bezug auf mich selbst abzulegen, trotzdem aber die Symptome kritisch zu reflektieren.

Denn es sind auch in 2024 noch viele falsche Annahmen oder problematische Aussagen über Neurodivergenz im Umlauf. Sätze wie „Jetzt hat plötzlich jede*r ADHS oder Autismus“ oder „Voll cool, ich will auch eine Diagnose und hochbegabt sein“ bringen niemandem etwas und erhöhen den Leidensdruck Betroffener zusätzlich. Oder wie es Ellie Middleton in ihrem Buch „Unmasked“ treffend auf den Punkt bringt:

🫂
„Society’s answer to an increase in diagnoses shouldn’t be ‚Oh my god, everyone has ADHD and Autism now‘. It should be ‚Oh my god, how did we manage to let so many people down?“ (S. 127)

Was mir an „Unmasked“ neben der sich selbst verzeihenden Grundstimmung sehr gut gefällt ist auch, dass Ellie Middleton ihre Rolle in der Gesellschaft sehr gut reflektiert. Sie wurde sowohl mit ADHS als auch Autismus diagnostiziert, allerdings erst im Erwachsenenalter. Ihre Symptome, Ängste und „sich falsch fühlen“ wurden als Depressionen und Angststörung diagnostiziert und ihr wurde gesagt, ansonsten sei sie nicht auffällig. Sie habe doch akademischen Erfolg, sei doch nicht „asozial“ etc.

Insbesondere weiblich gelesene Personen und/oder mehrfach diskriminierte Personen haben jedoch ein erhöhtes Risiko, gar nicht erst zur Diagnose zu gehen, nicht ernst genommen zu werden und in Folge dessen eine Fehl- oder Nicht-Diagnose zu bekommen. In einer Gesellschaft, in der diese Menschen generell diskriminiert werden, passiert das natürlich auch in Bezug auf Diagnosen, seien sie für körperliche oder psychische Leiden. Das ist auch bei mir auch passiert und ich würde im nächsten Teil gern schildern, warum.

[Teil 2/2 kommt am Sonntag, haltet die Ohren steif und abonniert gern den Newsletter, falls noch nicht geschehen <3]


Quellen und weiterführende Literatur:

-   Mina Teichert: Neben der Spur, aber auf dem Weg. Warum ADS und ADHS nicht das Ende der Welt sind. Eden Books, 2018.
- Denise Linke: Nicht normal, aber das richtig gut. Mein wunderbares Leben mit ADHS und Autismus. Piper, 2018. (Ich fand das Buch teils unzureichend oder problematisch, daher hier kein „Kauflink“, trotzdem beziehe ich mein Wissen teils daraus)
- Ellie Middleton: Unmasked. The ultimate guide to ADHD, autism and neurodivergence. Penguin Life, 2023.
- Online-Artikel über bipolare Störung (Diagnose und Therapie), abgerufen am 06.08.2024.
- Instagram-Account von Hedy Mae, einer mit ADHS diagnostizierten Mutter und Autorin, die bei sich zusätzlich Autismus vermutet und chronisch krank ist
- Instagram-Account von Anna Mendel, einer Mutter und Aktivistin, selbst mit ADHS diagnostiziert, die zwei autistische Kinder hat